Friedensfahrt 2011.

Nachdem wir im letzten Jahr erstmals und zu viert bei der Internationalen Touristischen Friedensfahrt am Start waren, fand sich in diesem Frühjahr eine Gruppe von acht Leuten aus dem Leipziger Dunstkreis, die sich der 2011er Auflage von Leipzig nach Brno stellten. Und auch diesmal hinterlässt die vorzüglich organisierte Veranstaltung einen bleibenden Eindruck. Neben dem Fahrerlebnis, dem wohligen Gefühl einer über achtstündigen Rückfahrt in dem Wissen, diese Distanz in vier Tagen per Muskelkraft zurückgelegt zu haben, neben wunderschönen Landschaften und tollen Gruppen, bleibt auch der Eindruck zurück, zum Teil mit einer anderen Generation Rad gefahren zu sein. Mit Menschen, die anders und deutlicher organisiert sind und die “Radfahren” anders leben. Hier also ein kurzer Bericht.

Der Startort Leipzig ist für uns natürlich komfortabel gewählt. Nach einer letzten Nacht, die teils durchschlafen, von manchen aber eher durchwacht wurde, treffen wir uns am Himmelfahrtsmorgen auf dem Augustusplatz. Gepäcktaschen werden verladen und ein Feld von ca. 70 Menschen setzt sich in Richtung Erzgebirge in Bewegung. Sonne, Wärme, Rückenwind. Lockere Beine, lockeres Rollen, lockere Gespräche, lockere Sprüche. Der erste Verpflegungspunkt wird erreicht, woraufhin sich unsere Gruppe teilt. Übermütig in der Sportgruppe mitdrückend, meldet sich alsbald mein angeschlagenes Knie und macht mir unmissverständlich klar, dass ich entweder eine ruhigere Kugel zu schieben habe oder eben gar keine. Also warte ich an der letzten Verpflegung und nehme mit Hans, Felix, Josch und Keesi die gemächlichere Gangart auf. Die beiden letzteren ziehen hinter Freiberg schnell davon, es ist für mich der abscheulichste Streckenteil. Eingetrübter Himmel, wellig steigende Straße, kein Rhythmus, kein Rollen, Drücken und ein klein wenig Fluchen. Mein Körper führt mir im Schnelldurchlauf all seine Problembereiche vor, beide Knie melden sich, beide Achillessehnen…da will mich jemand einbremsen. Doch die Stimmung klart schnell wieder auf, wir entdecken spätestens in Frauenstein die Struktur unserer kommenden Tage: Ein Stadtfest mit einigen Buden auf dem Marktplatz lädt uns zur Kaffeepause ein, das vorher erträumte Fischbrötchen materialisiert sich und ich kläre für mich: Das hier ist Urlaub mit Rennrad, keine Rennfahrt mit Unterkunft. Punkt. Die nächsten Kilometer laufen wieder, die Steigungen werden hart, es geht auf’s Erzgebirge und wir nehmen etwaige Rampen mit Gleichmut, nur lustiger. Schafe, Schilder, Menschen am Wegesrand, alles wird kommentiert und wir entwerfen den Ehrenkodex, jede Etappe als letzte abzuschliessen. An diesem Tag gelingt es uns, wir fühlen uns großartig. In der Jugendherberge wird nach Begrüßung und Verpflegung ein Täve-Schur-Film gezeigt, wir sitzen derweil auf der Wiese und stoßen dann zufällig nur in eine Diskussion der Filmschauenden, die sich um die Nicht-Aufnahme des DDR-Radsporthelden in die “Hall of Fame des deutschen Sports” dreht. Diese Entscheidung kommt nicht bei allen gut an, es scheint, als würde die Kritik an Täve von manchen persönlich genommen. Ein Teilnehmer zumindest regt eine Petition der Friedensfahrt an, die für die Aufnahme von Schur plädieren möge. Peter Scheunemann, Organisator und Tourleiter, stellt salomonisch das Thema für die nächsten Tage zur Diskussion. Ich hab nichts mehr davon gehört.

Am nächsten Morgen steht die Abfahrt vom Erzgebirge an, das nach Süden hin steil und plötzlich abfällt. Im Vorhinein war dieser Streckenabschnitt einer meiner Motivationspunkte, 600 hm werden am Stück und windend vernichtet. Und wenn ich schon im gesamten nicht vorn mitspielen will (und kann…), so sehe ich doch zu, diese Abfahrt von vorn zu nehmen. Ich hatte das in Freiburg schon bemerkt, Abfahrten liegen mir immer mehr, ich kann auf Risiko gehen ohne Schranke im Kopf, ich kann es doch ganz gut laufen lassen. Vielleicht bin ich auch einfach nur schwerer geworden. Jedenfalls sind drei Ottertrikots ganz vorn zu finden und wir tanzen uns durch die Kehren. Dass man dabei – wir sind inzwischen in Tschechien – an den lustigsten Stellen auf Schlaglöcher und andere Späße trifft, trägt zur Herausforderung bei und sorgt für volle Aufmerksamkeit. Steffen überholt mich, verliert gischtend seine Flasche (die Schlaglöcher), fällt zurück und ich bin tatsächlich als Erster unten. Ich grinse, der Tag kann beginnen. Ich warte an einer Bushaltestelle auf unseren Schlusslichtexpress. Der formiert sich dann endgültig mit Hans, Felix, Keesi und mir, noch liegen wir im Mittelfeld. Wir treffen Eddy aus dem letzten Jahr wieder, abermals mit Defekt, seinen Steuersatz stellen wir bei der Gelegenheit auch noch ein. Hinter einer Schranke verlässt dann unsere Sportgruppe mit Martin, Steffen, Josch und Tias endgültig unser Blickfeld und wir genehmigen uns einen ersten Kaffee. Urlaub halt. Es folgt ein Stück rauhen Feldwegs, natürlich zu unserem vollsten Vergnügen. Wir folgen den im Matsch sichtbaren Reifenspuren und fragen uns, welche Flüche wohl die Materialempfindlichen hier losgelassen haben mögen. Dabei erwischt es auch uns, doch wir ertragen Felix Durchschlag gelassen. Dass es an dieser Stelle auch Joschs Getriebe und damit seine Teilnahme komplett entschärft hat, erfahren wir erst später. Das ist bitter. Vorher kurbeln wir uns aber das Böhmische Mittelgebirge hinauf und all die charakteristischen Zeichen sind wieder da: Die kleinen Dörfer mit dunkelrot gestrichenen Blechdächern, die Hunde, die Schilder, der rauhe Asphalt und die Schlaglöcher. Tschechien und ostwärts, wir sind drin. Zwischen den typischen Basaltkuppen gleiten wir dann in herrlicher Landschaft zur Verpflegung, wo wir auf die Sportgruppe stoßen und Joschs Malheur sichten. Zerschossenes Schaltwerk, zerschossenes Schaltauge…das heisst Abschied für ihn. Verdammt. Leider können wir nichts tun, Josch reist ab und nachdem sich das gesamte Feld gestärkt hat, gehen wir erstmal Kaffee trinken. Langsam rollen wir in die Hitze, kämpfen uns einen kleinen Anstieg hinauf und auf einmal rollt es wieder. Dieser wundersame Effekt, wenn kaum merkliche Unterschiede im Profil über Schwung und Schwertritt entscheiden. Es geht eine lange Straße zwischen Feldern entlang, die in unregelmäßigen Abständen und genau dann, wenn man sich ans Gleiten gewöhnt hat, mit Unebenheiten aufwartet. Uns stört das nicht. Die optionale Auffahrt auf den Rip ersparen wir uns und sind dann fast erschrocken, wie schnell wir das Ziel in Melnik erreichen. Um vier in der Herberge zu erscheinen ist keine Option, am Markt geben wir uns gebratenem Käse und Bieren hin. Wohlgenährt treffen wir dann als vorletzte im Hotel ein, genau richtig zum Abendbrot. Steffen hat Geburtstag, auf der Terrasse lassen wir es zusammen dunkel werden und fallen nach zwölf in die Betten.

Der dritte Tag bietet die Option über Prag oder einen direkteren Weg. Wir wählen letzteren mit 130 km und rollen mit dem Feld los, die Sportler treibt es natürlich entlang der Moldau. Wir reihen uns mal wieder im Feld ein und kurbeln ostwärts. Es ist flach, der Autoverkehr dicht, am zweiten Abzweig knallt es vor mir. Niemand hatte das Abbremsen angezeigt, Auffahrunfall mit Schürfwunden und verzogenem Laufrad. Jenes wird zentriert und ein paar alte Hasen ergehen sich in Anweisungen, wie jetzt zu verfahren sei. In zwei Gruppen nämlich, um Unfälle zu vermeiden und die Disziplin aufrechtzuerhalten…die Ratschläge verhallen, viel mehr erregt die anstehende Feldwegpassage die Gemüter. Unsere natürlich auch, wir ziehen vor und geben Stoff. Hans und ich grinsen uns an, Worte der Verzückung wirbeln mit uns durch die Sommerluft. Es folgt irgendwann die wagemutige Hälfte des Feldes, die sich über diesen Abschnitt traut, doch in der nächsten Stadt reisst auch dort der Geduldsfaden: Der GPS-genaue Routenvorschlag sieht abermals ein Stück Dreckwegs vor, samt dem Navigator fahren wir ein. Nach hundert Metern, die anderen diskutieren noch, wird zur Ultima Ratio gegriffen: Vermittels Trillerpfeife teilen uns die Zögernden nicht nur mit, dass sie nicht gedenken, dieses Stück Erde zu befahren, viel mehr geht es ihnen wohl auch um unsere sofortige Rückkehr. Wir sind amüsiert, wir sind auch ein bißchen schockiert, wir sind an dieser Stelle wohl ziemlich inkompatibel. Wir finden solche Wege ja sogar gut und diese 300 Meter hier gehen sowieso nur als Homöopathie durch. Wieder auf Asphalt spannen wir uns also hintereinander und blasen zu viert durch die nächsten Orte, die kommende Kaffeepause verlangt nach Vorsprung. Am Wegesrand sitzend beobachten wir die vorbeiziehenden Gruppen, um dann wieder auf sie aufzurollen. Felix und ich sprinten um jedes Ortsschild, wahrscheinlich zerreissen wir damit die Gruppe und mindestens zwei alte Herren sind uns verdächtig auf den Fersen. Den Ruf jedenfalls, dass wir nur im Schneckentempo dahinkriechen würden, haben wir hier glaubhaft widerlegt, ausserdem schätzt man unsere Navigation. Als ich einen älteren Herrn auf einem schicken De Rosa Titanio frage, ob ich ihn fotografieren dürfe, ernte ich Verwunderung. Mein Satz, dass er auf und mit seinem Rad ja ein schönes Bild abgäbe, wird mit einem knarzigen “Damit musst du genauso treten” abgetan. Herrlich, wenn Komplimente aneinander vorbeirasen. So geht das weiter bis zur Verpflegung, es folgt Kolin samt Oldtimer-Tatra-Ausstellung auf dem Marktplatz und wir pirschen uns so langsam ans nächste Mittelgebirge heran. Einsetzender Regen heisst für uns Einkehr, vorbeiziehende Fahrer Genugtuung (remember “Projekt Letzte Ankomme”) und das sich zum Ende der Etappe hin aufbäumende Höhenprofil haben wir bis hierhin erfolgreich verdrängt. Plötzlich ist die Steigung da, bäumt sich ohne Ansage vor uns auf, wir wuchten uns nach oben. Die Felder weichen Wäldern und am Gipfel fällt mir wieder auf, wie wunderschön regennasse Nadelwälder sein können, die von tief stehender Sonne durchstrahlt werden. Und wie das alles riecht! Und nachdem ich an jenem Tag schon Übersechziger auf De Rosa, ein wunderschönes Roubaix sowie einen toreinfahrtgroßes Madone beäugt habe, fahren wir plötzlich mit Gerd. Er sitzt auf einem mittneunzigergelben Giant Stahlrahmen, Schraubkranzhinterrad, Siebenfach-Megarange-Kranz. Er tritt auch am Berg nur die drei kleinsten Ritzel, natürlich vom großen Blatt, seine Füße stecken in zusammengeschobenen Socken und Radsandalen. Unter seinem Trikot baumelt stetig sein Brustbeutel, fahrend simuliert der eine ordentliche Plauze. Das Sitzpolster der Radhose wiederum hängt irgendwo und ist von hinten nicht zu erkennen, dafür schlägt die rücklings angebrachte Gepäcktasche in jedem Schlagloch nahezu auf seinem Hinterreifen auf. Das ist dann der Punkt, an dem man tunlichst alle vermeintlichen Weisheiten vergessen sollte, all die Dinge die gehen und die eben nicht gehen. Denn Gerd lugt am nächsten Berg immer wieder grinsend zu uns rüber. Gerd zieht einen Gipfelsprint an. Gerd ist auf diesem Rad zum vierzehnten Mal dabei, nach Moskau ging es schon und bis nach Istanbul. Gerd ist so ein Friedensfahrt-Typ. Heute fahren wir aber nur bis Horni Bradlo, in den Wald und in ein ehemaliges Kinderferienheim mit Finnhütten, leerstehenden Pools und freundlichen Essensdamen. Im Wald ist es wunderbar friedlich.

Gezwungenermaßen sind wir Saboteure des montäglichen Kulturprogramms am Zielort Brno. Viel mehr müssen wir schon am Sonntag um 14 Uhr ankommen, um unser Gepäck in Empfang zu nehmen, die Räder in den wartenden LKW zu wuchten und daraufhin die Rückreise nach Leipzig anzutreten. 130 km sind es trotzdem und so brechen wir um kurz nach halb acht auf. Zu siebt diesmal mitsamt unserer Sportgruppe, in der sich merkbar fragende Nervosität ob unserer Leistungsfähigkeit und unseres Leistungswillens breit macht. Wir geben, was wir können, sind nach wenigen Kilometern warm, an den Steigungen teilt sich trotzdem der Zug. Als die abendlich in Keesis hinteren Schlauchreifen eingefüllte Dichtmilch ihren Dienst in der Glasscherbenwunde versagt, schickt der Zufall uns Helfer Frank samt Verpflegungsauto, in dem auch eine Standpumpe lagert. Es wird gemilcht, gepumpt und gegessen, die erste Pause haben wir jetzt schon durch und die Wasserscheide Elbe-Donau ebenso hinter uns gelassen. Folglich rollt es, zuweilen fliegt es, an einem Stausee erwartet uns rauher Asphalt und eine überwältigende Landschaft samt schön geschwungener Abfahrt hinter der Staumauer. Später bemerke ich in einer schnell gefahrenen Kurve das undefinierte Schwimmen meines Hinterbaus, mein Schlauch ist diesmal dran und so kommen Hans und ich doch noch zu unserem eingeforderten Kaffee. Die Uhr drückt ständig, wir liegen halbwegs im Plan, der Schnitt kostet Körner und als die Straße das Tal abermals verlässt, verlässt uns auch die Spritzigkeit. Doch Brno ist in Reichweite, einmal noch mit Kraft in eine Abfahrt stürzen, zielnah letzte Wellen wegdrücken, ich muss sogar ein Gel einzutschen, um mich an den Stadtrand zu retten. Zügig mit Tendenz zur Entkräftung fahren wir durch die überraschend weitläufigen Vororte der mährischen Stadt, die im Zentrum auch noch mit einem ordentlichen Anstieg aufwartet. Fünf vor zwei sind wir am Ziel und finden den LKW. Räder verpacken, Gruppenticket lösen. Wir sind durch und haben um die 510 km auf der Uhr. Gemächlicher als im letzten Jahr, aber auch mit weiterem Blick für Details, mit etwas mehr Genuß und vor allem: Ohne Schmerzen am Schluß. Hatte ich mir im letzten Jahr noch auf der letzten Etappe über den Spindlerpass mindestens ein Gelenk heißgedreht, sind diesmal die Beschwerden spätestens auf der dritten Etappe verschwunden. Kann man sich also doch halbwegs auf seinen Körper verlassen. Wie schön.

Während der über achtstündigen Zugfahrt nach Leipzig gehen mir einige Szenen nochmals durch den Kopf. Das Feld bestand zu einem guten Teil aus älteren Herrschaften, die wohl meist aus dem Osten des Landes kommen und in der Friedensfahrt eine Fortführung ihrer persönlichen Radsporttradition sehen. Man ist teilweise in Vereinen organisiert, bei einigen herrscht merklich Gruppendisziplin. Die Trillerpfeife wird auch schon mal gezogen und die Frage nach Lizenzen, die uns gestellt wurde, kommt sicher auch nicht von ungefähr. Unsere Raucherei wird natürlich mit Kommentaren bedacht; lustig auch die Vereinsmitglieder, die sich zum Durchzug einer wohlverdienten „Petra“ hinterm Busch verstecken und einen fast wie Eingeweihte angrinsen. Erst in diesem Jahr ist mir klar geworden, dass Peter und Christel Scheunemann diese Touren – 2011 geht es zum Beispiel noch von Leipzig nach Kiew! – seit über 25 Jahren organisieren. Dankesworte für die absolut umsorgende Organisation werden dabei fast floskelhaft entgegengenommen, sie scheinen gar nicht wirklich anzukommen. Warum die beiden und einige Freunde das immer wieder machen? Ich weiss es nicht genau. Mir ist jedenfalls wieder klar geworden, dass sich in vier Tage nicht viel mehr Konzentration auf’s Rad fahren hineinpacken lässt, dass einem Punkte wie Verpflegung, Routenführung und Unterkunft routiniert abgenommen werden und man dadurch – Vorsicht, Floskel! – den Alltag für diese Zeit wunderbar hinter sich lassen kann. Und es ist ganz bestimmt davon auszugehen, dass Critical Dirt 2011 ohne die letztjährige Friedensfahrt anders oder gar überhaupt nicht aussehen würde. Die Friedensfahrt ist ein tolles Ding und ich hoffe, dass sich auch in unserem Feld mindestens ein Eddy oder ein Gerd finden werden. Diese Begegnungen mit sympathischen Menschen, die manchmal ziemlich anders unterwegs sind als man selbst und mit denen man trotzdem Strecke und Eindrücke herzlich und unmittelbar teilen kann, runden die ganze Fahrt für mich ab. Und natürlich ist es eine Freude, solche Touren mit Freunden unternehmen zu können. Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu fliegen!

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