Tag Archive for 'Exkurs'

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On the way to the club.

Wir sind mal noch ein bißchen unterwegs. Es geht nach Weidenthal in den Pfälzer Wald, zum Schlaflos im Sattel. Nun könnte man versuchen, dieses Radrennen, das keines sein will, zu charakterisieren. Doch vielleicht belässt man es lieber bei den folgenden Worten:

Es ist alles gesagt! SiS erklärt sich von selbst – oder nie!

Vielleicht ist ja das in den letzten Tagen erfolgte Durchwühlen von alten Bildern, Berichten und Artikeln, das grinsende Vorbereiten der Räder und die heimliche Kalkulation von Rundenzeiten in und um 547 nächtliche Minuten genug Beweis dafür, dass uns seit Tagen eine heraufgrollende Vorfreude beschleicht und wir uns derbe drauf freuen, dass voraussichtlich mal wieder vieles passen wird: Mountainbiken, Menschen treffen, locker lassen und verbissen sein…irgendwie geht das alles immer sehr gut zusammen und die Reihenfolge ist hier rein zufällig gewählt. Die drei bis vier Tage in Weidenthal machen auf vielen Ebenen großen Spaß und entfalten verlässlich eine Art eigenes Universum.

Was SiS außerdem ausmacht ist ein gleichermaßen subtil wie deutlich ausgeprägter Gemeinschaftssinn und ein Blick über den eigenen Tellerrand hinaus. Da wird zugunsten der an Leukämie erkrankten Landrätin zur Stammzellentypisierung aufgerufen und da wird mit S.O.ß.I.S. ein Spendenmarathon über mehrere Jahre ausgetragen, dessen Erlöse den SOS Kinderdörfern in Haiti zugute kommen. Wir finden das gut und haben uns kurzerhand entschieden, in diesem Jahr unseren Teil beizutragen.

Wir werden die aktuelle Trikotcharge mit einigen wenigen Restexemplaren vor Ort haben, wer also bestellt hat, kann sich in Weidenthal sein Ottertrikot abholen. Wir haben aber auch noch eine ganze Menge an 2010er Plakaten und ein paar Otter-Shirts dabei und werden die Hälfte des Erlöses aus Shirt und Plakat S.O.ß.I.S. zugute kommen lassen. Das Poster gibt’s für nen Fünfer, die Shirts zu je 12 Euro und wer gleich beides nimmt, drückt uns einfach 15 Euro in die Hand. Wir stehen in dem Zusammenhang extrem auf persönliche Übergabe, weil Poster versenden teuer und nervig ist. Kommt also am besten bei SiS rum oder sprecht uns im Herbst nochmal an. Und wenn ihr SiS noch nicht kennt: Kämpft am 1.1.2012 um die Startplätze. Allein schon die Vorfreude ist’s wert.

Radale in Leipzig.

Am vergangenen Wochenende feierte in Leipzig wie angekündigt die Radale Premiere. Unter dem Titel „Es wird Fahrrad gefahren“ handelte es sich dabei nicht nur um eine Fahrveranstaltung, viel mehr wurde mit Film, Sound und guter Verpflegung auch Wert auf das gelegt, was man gemeinhin „Drumherum“ nennt und gleichzeitig mit diesem Begriff oft unterschätzt. Denn Geschichten tauscht man erst aus, wenn man wieder atmen kann und der Körper mit allerlei Verlangtem benachschubt wurde. Die Radale wurde veranstaltet von einer Gruppe von Leuten, die auch schon bei Critical Dirt am Start waren oder im letzten Jahr gemeinsam mit uns die Fahrt von Dresden nach Leipzig organisiert oder gefilmt hatten. Man traf sich am Freitag Abend am Conne Island in Leipzigs Süden und wir können bezeugen, dass die Lichter vor dem Eiskeller erst nach 1 Uhr ausgeschaltet wurden, nachdem wir unsere letzte Bierrunde bestellt hatten.

Als klein und fein angekündigt war der Samstag als Dreh- und Angelpunkt sehr gut besucht. Denn 73 Fahrer und rekordverdächtige 20 Fahrerinnen hatten sich im Garten des Conne Island eingefunden und empfingen ihre Startpakete. Eine Rundstrecke um die Stadt, die in großen Teilen dem Inneren Grünen Ring folgte, sollte mithilfe von zwei Karten befahren werden, wobei vier Eisenbahnhaltepunkte als Checkpoints dienten. Björn und ich als Critical Dirt Abordnung hatten GPS und Kartenbrett auf unseren Vorbauten montiert und der berüchtigte Effekt invertierter Tiefstapelei sollte sich schon bald nach dem Startsignal einstellen: Mit wenig Schlaf im Körper hatten wir uns schon im Vorhinein versichert, es langsam angehen lassen zu wollen, kein Stress, man ist ja zum Genießen hier und so weiter… Kaum 500 Meter waren jedoch gerollt und wir zogen unser Tempo nach oben. Da wir die Wege hier recht gut kennen hatten wir außerdem einen nicht zu unterschätzenden Navigationsvorteil gegenüber Auswärtigen und fanden uns somit spätestens ab der Knauthainer Schranke an der Spitze des Feldes wieder. Also doch und eben erst recht: Sportmodus.

Und dann stellte sich so langsam heraus, dass die diesjährige Friedensfahrt, die konstanten Etappenbefahrungen und diverse andere durchfahrene Wochenenden ihre Spuren in unseren Beinen hinterlassen hatten: Wir waren schnell! Durch die westlichen Vororte und die Ausläufer das Auenwaldes fuhren wir ungefähr im Dutzend, schwenkten nördlich des Auensees in Richtung Nordost und folgten den Gleisanlagen des Güterrings, um über die Messeallee am Verpflegungspunkt anzukommen. Das Essensmobil war noch nicht vor Ort, was das Gefühl hoher Geschwindigkeit natürlich noch weiter in Richtung breites Grinsen verstärkte und unsere verspätete Teamautoankunft nach der 1. Etappe von Critical Dirt 2010 in Erinnerung rief. Bald aber tauchten Josch und Co. auf und breiteten ihr Buffet aus, während wir im Schatten sitzend die nachfolgenden Gruppen begrüßten.

Belegte Brötchen, Bananen, Joghurt, Kaffee und Radler sorgten dann für leckeren Nachschub unter malerischem Himmel. Steffen, den wir unterwegs mit einem lauten Schlauchplatzer auf Schotter verloren hatten, zog gleich zweimal einen neuen Schlauch auf sein Rennhinterrad – ja, das geht! – und wir setzten uns gestärkt wieder in Bewegung. Auf weitere Gemütlichkeitsbekundungen verzichteten wir und wollten es wissen, meine Beine wussten es schon. Da sich der Charakter der Strecke von Forst- und Wiesenwegen zu flachem Asphalt geändert hatte und der Wind auffrischte, wurde der zweite Abschnitt zu einer Art Gewaltritt. Fünf Ottertrikots fanden sich in der Spitzengruppe, wobei zumindest meines und jenes von Felix mit fortschreitender Fahrtdauer immer mal wieder nach hinten ausgespuckt wurden, um mit letzter Kraft doch noch Anschluss halten zu können. Björn „ich bin nicht mehr fit aber hatte vor fünf Jahren mal 25.000 Trainingskilometer pro Saison“ drückte stoisch auf seinem Fully mit, während ich mich an Telefonate der letzten Wochen erinnerte, in denen mir fast mahnend der Besuch der Krampfzone (nur unscharf abgegrenzt von der berüchtigten Kotzgrenze) angeraten wurde. Ich hielt mich dran und wurde dort fast heimisch. Leider hängen die Decken da sehr tief, Stroboskope flackern und Pulsschläge wummern während man in panischer Ruhe mit dicken Wurstfingern versucht, mit einer Stecknadel in die Öffnung einer Schaltzugendkappe zu treffen, die in zwanzig Metern Entfernung auf einer Weihnachtspyramide ihre Runden dreht. So erkläre ich mir jedenfalls, dass ich auf Etappe II lediglich ein hastiges Bild geschossen habe und nahm auch die Verlängerungsetappe für die Führungsgruppe, die uns an Markkleeberger und Cospudener See vorbeiführte, noch in Kauf. Spätestens am Stempelpunkt Bistumshöhe entschloss sich Steffen jedoch zum Verlassen seiner Komfortzone und peilte folgerichtig den Tagessieg an, was Mike, Felix und mich mit einem Wimpernschlag und schweißbrennenden Augen auf dem aufgeschütteten Hügel zurückliess. Björn erbarmte sich und wartete mit uns, in immer noch zügigem Tempo rollten wir dann wieder Richtung Eiskeller. Dort waren neben unseren ehemaligen Mitfahrern schon einige, die nicht auf die lange Runde geschickt worden waren, eingetroffen und wir reihten uns nach Abgabe unserer Stempelkarten in die Schlange ein, die am ertzui°fotostand endete. Als die Bilder von uns mit Rad geschossen waren, fluteten wir unsere Körper mit Rauch und Flüssigkeiten und sahen den Platz sich füllen.

Die Siegerehrung folgte in guter Tradition dem Muster, das uns sympathischerweise von vielen Veranstaltungen bekannt ist und dem auch wir gerecht werden wollen: Schnelligkeit wird natürlich belohnt; Style, Mut, Sympathie und lange Anreise jedoch mindestens genauso gern. So erfuhren wir dann auch, dass Menschen aus Cuxhaven gekommen waren und sich ein schwangeres Pärchen die Strecke teilte, dass man auch im Anzug fahren kann und dass schicke Diamant-Räder weiterhin hoch im Kurs stehen. Losglück wurde danach Björn zuteil, dessen Startnummer einem blinkenden Specialized Langster Rahmenset zugelost wurde. Währenddessen sackte aber auch die Müdigkeit nicht nur in die Beine, das abermals leckere Abendbuffet konnte dem im Verbund mit weiteren Einheiten tiefbraunen Bohnentrunks teilweise entgegenwirken. Mit dem Gefühl zurückliegender Anstrengung wurden dann – mit schweren Beinen nicht bloß graue Theorie – die Brevet-Vorhaben und –Erlebnisse einiger Anwesender diskutiert und man wurde sich mal wieder klar darüber, dass irgendwo da draußen subtil die Grenze zum Wahnsinn ausgelegt ist. Was natürlich nicht bedeuten soll, dass man nicht allzu gern auch mal von dieser magischen Linie probieren würde. Mit meinen Gästen Stijn und Michiyo zog ich mich bei einbrechender Dunkelheit dann auf den heimischen Balkon zurück und opferte den Sonntag mit Brunch und weiterer Ausfahrt dem nicht-fahrrad-sozialen Leben, auch dies ein Effekt der zurückliegenden durchfahrenen Wochenenden.

Die Radale hat Spaß gemacht und dass es von heftiger Drückerei bis zur Teilnahme mit Anzug oder Schwangerschaftsbauch ein breit gestreutes Feld möglicher Bewegungsarten gab beweist, dass der Leitspruch „Es wird Fahrrad gefahren“ bestens gewählt war. Der abwechslungsreiche Rundstreckenkurs in Kombination mit bewährter Publikumsumsorgung und eine entspannt bespielbare Homebase  haben das Event zu einem sportlich-relaxten Wochenende für uns gemacht, dass uns erfreulicherweise die Möglichkeit bot, auf ähnlichem Geläuf wie dem von uns bespielten sich einfach nur auf’s Fahren zu konzentrieren. Auf’s Mitfahren und Anziehen und Hinterherhecheln und Navigieren und den ganzen Rest. Viele Grüße also an die Radale-Crew, wir sind gespannt wie’s weitergeht und freuen uns auf ein Bier mit euch.

The Outspoken Cyclist.

Wir haben den Link zur vorzüglichen Radiosendung The Outspoken Cyclist in den letzten Tagen stillschweigend in unserer Linkliste untergebracht. So langsam geht uns aber auf, welche Fülle an interessanten “bike people” dort schon zur Sprache kam und daher verdient die Sendung mindestens einen eigenen Beitrag. Das Prinzip ist einfach: Diane Lees interviewt seit April 2010 auf WJCU im Wochentakt Menschen, die auf irgendeine Art Einfluss auf Radfahren (nicht nur) in Amerika hatten und haben. Dabei handelt es sich aber nicht um schnelle Fünf-Minuten-Checks, sondern Diane geht ins Detail und lässt ihre Gesprächspartner sehr ausführlich zu Wort kommen. Es handelt sich unter anderem um Ben Serotta, Jacquie Phelan, Steven Bilenky, F.K. Day von Sram, Chuck Robinson von Specialized, Richard Schwinn, Gary Fisher, Craig Calfee, Don Walker, Joe Breeze, Jeff Frost vom Sea Otter Classic, Steve Flagg von QBP, Mark Nobilette, Brent Steelman, Paul Price von Paul Components, Richard Sachs und Keith Bontrager. Das sind jetzt nur die, die wir bei schnellem Drüberlesen irgendwie einordnen konnten und die Sendungen sind sämtlich noch abrufbar. Was für eine Fundgrube!

Und da stellen wir mal wieder fest: Erstens ist das Internet großartig. Zweitens verlieren verregnete Herbstwochenenden wie das letzte ihren Schrecken. Drittens ist jeder, der sich genauso über diese Aufzählung von Namen freut ähnlich bekloppt wie wir und wer hier mitliest ist diesem Zustand zumindest gefährlich nah. Aber was will man machen?

Viel Spaß beim Hören!

ParsleyBags.

Das sind Suse und Lina. Die beiden betreiben seit ein paar Monaten in Berlin die Firma ParsleyBags und wir finden das gut. Suse und ihr Mann Christoph waren wiederholte Teilnehmer der Cyclera, als in Leipzig noch über Kopfsteinpflaster geviertelmeilt wurde (Neuauflage in verändertem Rahmen steht ins Haus!) und Christoph ist Critical Dirt Ritter der ersten Stunde. Was also liegt da näher als die Formation eines schlagkräftigen Werksteams und die Ausarbeitung eines komplizierten Sponsoringkontrakts? Nichts, und darum haben wir genau das getan. ParsleyBags wird also zweiköpfig antreten und einen Preis stiften. Der könnte dann ungefähr so aussehen:

Neben diesen Modellen fertigen die beiden Satteltaschen, Sattelrollen und Vorbautaschen und sind für alle möglichen maßgeschneiderten Projekte zu haben, die sich um sinnvollen Transport am Rad drehen. Unter Einfluss veganer Kost und literweise grünen Tees entstehen dann in jener Werkstatt Unikate, die nicht nur für die Langstrecke geeignet sind. Und da mit Christoph ein gleichermaßen beschlagener wie kritischer Testfahrer bereitsteht, ist von nichts anderem als einwandfreier Funktion der Parsleys auszugehen.

Wir haben unterdessen am letzten Wochenende die ersten beiden Etappen unter die Räder genommen und werden unsere Erkenntnisse in ein paar Tagen, wenn wir uns auch von Leipzig nach Görlitz durchgeschlagen haben werden, hier entsprechend breit treten. Wir können schon jetzt vermelden, dass die Strecke sehr hart, sehr fordernd und sehr schön ist und dass sich 250 km Feldweggeballer eben genauso anfühlen. Die Parsley Satteltasche, die wir an einem Rad montiert hatten, hat sich dabei übrigens perfekt verhalten: Unauffällig, rüttelfrei und absolut wasserdicht.

Beste Grüße also nach Berlin, die geballte Ladung Streckenkenntnis gibt’s dann Anfang nächster Woche. Macht euch gefasst und wenn ihr könnt: Geht Rad fahren. Ihr werdet’s brauchen.

Edit: Einen eigenen flickr-Stream haben Suse und Lina jetzt auch.

Friedensfahrt 2011.

Nachdem wir im letzten Jahr erstmals und zu viert bei der Internationalen Touristischen Friedensfahrt am Start waren, fand sich in diesem Frühjahr eine Gruppe von acht Leuten aus dem Leipziger Dunstkreis, die sich der 2011er Auflage von Leipzig nach Brno stellten. Und auch diesmal hinterlässt die vorzüglich organisierte Veranstaltung einen bleibenden Eindruck. Neben dem Fahrerlebnis, dem wohligen Gefühl einer über achtstündigen Rückfahrt in dem Wissen, diese Distanz in vier Tagen per Muskelkraft zurückgelegt zu haben, neben wunderschönen Landschaften und tollen Gruppen, bleibt auch der Eindruck zurück, zum Teil mit einer anderen Generation Rad gefahren zu sein. Mit Menschen, die anders und deutlicher organisiert sind und die “Radfahren” anders leben. Hier also ein kurzer Bericht.

Der Startort Leipzig ist für uns natürlich komfortabel gewählt. Nach einer letzten Nacht, die teils durchschlafen, von manchen aber eher durchwacht wurde, treffen wir uns am Himmelfahrtsmorgen auf dem Augustusplatz. Gepäcktaschen werden verladen und ein Feld von ca. 70 Menschen setzt sich in Richtung Erzgebirge in Bewegung. Sonne, Wärme, Rückenwind. Lockere Beine, lockeres Rollen, lockere Gespräche, lockere Sprüche. Der erste Verpflegungspunkt wird erreicht, woraufhin sich unsere Gruppe teilt. Übermütig in der Sportgruppe mitdrückend, meldet sich alsbald mein angeschlagenes Knie und macht mir unmissverständlich klar, dass ich entweder eine ruhigere Kugel zu schieben habe oder eben gar keine. Also warte ich an der letzten Verpflegung und nehme mit Hans, Felix, Josch und Keesi die gemächlichere Gangart auf. Die beiden letzteren ziehen hinter Freiberg schnell davon, es ist für mich der abscheulichste Streckenteil. Eingetrübter Himmel, wellig steigende Straße, kein Rhythmus, kein Rollen, Drücken und ein klein wenig Fluchen. Mein Körper führt mir im Schnelldurchlauf all seine Problembereiche vor, beide Knie melden sich, beide Achillessehnen…da will mich jemand einbremsen. Doch die Stimmung klart schnell wieder auf, wir entdecken spätestens in Frauenstein die Struktur unserer kommenden Tage: Ein Stadtfest mit einigen Buden auf dem Marktplatz lädt uns zur Kaffeepause ein, das vorher erträumte Fischbrötchen materialisiert sich und ich kläre für mich: Das hier ist Urlaub mit Rennrad, keine Rennfahrt mit Unterkunft. Punkt. Die nächsten Kilometer laufen wieder, die Steigungen werden hart, es geht auf’s Erzgebirge und wir nehmen etwaige Rampen mit Gleichmut, nur lustiger. Schafe, Schilder, Menschen am Wegesrand, alles wird kommentiert und wir entwerfen den Ehrenkodex, jede Etappe als letzte abzuschliessen. An diesem Tag gelingt es uns, wir fühlen uns großartig. In der Jugendherberge wird nach Begrüßung und Verpflegung ein Täve-Schur-Film gezeigt, wir sitzen derweil auf der Wiese und stoßen dann zufällig nur in eine Diskussion der Filmschauenden, die sich um die Nicht-Aufnahme des DDR-Radsporthelden in die “Hall of Fame des deutschen Sports” dreht. Diese Entscheidung kommt nicht bei allen gut an, es scheint, als würde die Kritik an Täve von manchen persönlich genommen. Ein Teilnehmer zumindest regt eine Petition der Friedensfahrt an, die für die Aufnahme von Schur plädieren möge. Peter Scheunemann, Organisator und Tourleiter, stellt salomonisch das Thema für die nächsten Tage zur Diskussion. Ich hab nichts mehr davon gehört.

Am nächsten Morgen steht die Abfahrt vom Erzgebirge an, das nach Süden hin steil und plötzlich abfällt. Im Vorhinein war dieser Streckenabschnitt einer meiner Motivationspunkte, 600 hm werden am Stück und windend vernichtet. Und wenn ich schon im gesamten nicht vorn mitspielen will (und kann…), so sehe ich doch zu, diese Abfahrt von vorn zu nehmen. Ich hatte das in Freiburg schon bemerkt, Abfahrten liegen mir immer mehr, ich kann auf Risiko gehen ohne Schranke im Kopf, ich kann es doch ganz gut laufen lassen. Vielleicht bin ich auch einfach nur schwerer geworden. Jedenfalls sind drei Ottertrikots ganz vorn zu finden und wir tanzen uns durch die Kehren. Dass man dabei – wir sind inzwischen in Tschechien – an den lustigsten Stellen auf Schlaglöcher und andere Späße trifft, trägt zur Herausforderung bei und sorgt für volle Aufmerksamkeit. Steffen überholt mich, verliert gischtend seine Flasche (die Schlaglöcher), fällt zurück und ich bin tatsächlich als Erster unten. Ich grinse, der Tag kann beginnen. Ich warte an einer Bushaltestelle auf unseren Schlusslichtexpress. Der formiert sich dann endgültig mit Hans, Felix, Keesi und mir, noch liegen wir im Mittelfeld. Wir treffen Eddy aus dem letzten Jahr wieder, abermals mit Defekt, seinen Steuersatz stellen wir bei der Gelegenheit auch noch ein. Hinter einer Schranke verlässt dann unsere Sportgruppe mit Martin, Steffen, Josch und Tias endgültig unser Blickfeld und wir genehmigen uns einen ersten Kaffee. Urlaub halt. Es folgt ein Stück rauhen Feldwegs, natürlich zu unserem vollsten Vergnügen. Wir folgen den im Matsch sichtbaren Reifenspuren und fragen uns, welche Flüche wohl die Materialempfindlichen hier losgelassen haben mögen. Dabei erwischt es auch uns, doch wir ertragen Felix Durchschlag gelassen. Dass es an dieser Stelle auch Joschs Getriebe und damit seine Teilnahme komplett entschärft hat, erfahren wir erst später. Das ist bitter. Vorher kurbeln wir uns aber das Böhmische Mittelgebirge hinauf und all die charakteristischen Zeichen sind wieder da: Die kleinen Dörfer mit dunkelrot gestrichenen Blechdächern, die Hunde, die Schilder, der rauhe Asphalt und die Schlaglöcher. Tschechien und ostwärts, wir sind drin. Zwischen den typischen Basaltkuppen gleiten wir dann in herrlicher Landschaft zur Verpflegung, wo wir auf die Sportgruppe stoßen und Joschs Malheur sichten. Zerschossenes Schaltwerk, zerschossenes Schaltauge…das heisst Abschied für ihn. Verdammt. Leider können wir nichts tun, Josch reist ab und nachdem sich das gesamte Feld gestärkt hat, gehen wir erstmal Kaffee trinken. Langsam rollen wir in die Hitze, kämpfen uns einen kleinen Anstieg hinauf und auf einmal rollt es wieder. Dieser wundersame Effekt, wenn kaum merkliche Unterschiede im Profil über Schwung und Schwertritt entscheiden. Es geht eine lange Straße zwischen Feldern entlang, die in unregelmäßigen Abständen und genau dann, wenn man sich ans Gleiten gewöhnt hat, mit Unebenheiten aufwartet. Uns stört das nicht. Die optionale Auffahrt auf den Rip ersparen wir uns und sind dann fast erschrocken, wie schnell wir das Ziel in Melnik erreichen. Um vier in der Herberge zu erscheinen ist keine Option, am Markt geben wir uns gebratenem Käse und Bieren hin. Wohlgenährt treffen wir dann als vorletzte im Hotel ein, genau richtig zum Abendbrot. Steffen hat Geburtstag, auf der Terrasse lassen wir es zusammen dunkel werden und fallen nach zwölf in die Betten.

Der dritte Tag bietet die Option über Prag oder einen direkteren Weg. Wir wählen letzteren mit 130 km und rollen mit dem Feld los, die Sportler treibt es natürlich entlang der Moldau. Wir reihen uns mal wieder im Feld ein und kurbeln ostwärts. Es ist flach, der Autoverkehr dicht, am zweiten Abzweig knallt es vor mir. Niemand hatte das Abbremsen angezeigt, Auffahrunfall mit Schürfwunden und verzogenem Laufrad. Jenes wird zentriert und ein paar alte Hasen ergehen sich in Anweisungen, wie jetzt zu verfahren sei. In zwei Gruppen nämlich, um Unfälle zu vermeiden und die Disziplin aufrechtzuerhalten…die Ratschläge verhallen, viel mehr erregt die anstehende Feldwegpassage die Gemüter. Unsere natürlich auch, wir ziehen vor und geben Stoff. Hans und ich grinsen uns an, Worte der Verzückung wirbeln mit uns durch die Sommerluft. Es folgt irgendwann die wagemutige Hälfte des Feldes, die sich über diesen Abschnitt traut, doch in der nächsten Stadt reisst auch dort der Geduldsfaden: Der GPS-genaue Routenvorschlag sieht abermals ein Stück Dreckwegs vor, samt dem Navigator fahren wir ein. Nach hundert Metern, die anderen diskutieren noch, wird zur Ultima Ratio gegriffen: Vermittels Trillerpfeife teilen uns die Zögernden nicht nur mit, dass sie nicht gedenken, dieses Stück Erde zu befahren, viel mehr geht es ihnen wohl auch um unsere sofortige Rückkehr. Wir sind amüsiert, wir sind auch ein bißchen schockiert, wir sind an dieser Stelle wohl ziemlich inkompatibel. Wir finden solche Wege ja sogar gut und diese 300 Meter hier gehen sowieso nur als Homöopathie durch. Wieder auf Asphalt spannen wir uns also hintereinander und blasen zu viert durch die nächsten Orte, die kommende Kaffeepause verlangt nach Vorsprung. Am Wegesrand sitzend beobachten wir die vorbeiziehenden Gruppen, um dann wieder auf sie aufzurollen. Felix und ich sprinten um jedes Ortsschild, wahrscheinlich zerreissen wir damit die Gruppe und mindestens zwei alte Herren sind uns verdächtig auf den Fersen. Den Ruf jedenfalls, dass wir nur im Schneckentempo dahinkriechen würden, haben wir hier glaubhaft widerlegt, ausserdem schätzt man unsere Navigation. Als ich einen älteren Herrn auf einem schicken De Rosa Titanio frage, ob ich ihn fotografieren dürfe, ernte ich Verwunderung. Mein Satz, dass er auf und mit seinem Rad ja ein schönes Bild abgäbe, wird mit einem knarzigen “Damit musst du genauso treten” abgetan. Herrlich, wenn Komplimente aneinander vorbeirasen. So geht das weiter bis zur Verpflegung, es folgt Kolin samt Oldtimer-Tatra-Ausstellung auf dem Marktplatz und wir pirschen uns so langsam ans nächste Mittelgebirge heran. Einsetzender Regen heisst für uns Einkehr, vorbeiziehende Fahrer Genugtuung (remember “Projekt Letzte Ankomme”) und das sich zum Ende der Etappe hin aufbäumende Höhenprofil haben wir bis hierhin erfolgreich verdrängt. Plötzlich ist die Steigung da, bäumt sich ohne Ansage vor uns auf, wir wuchten uns nach oben. Die Felder weichen Wäldern und am Gipfel fällt mir wieder auf, wie wunderschön regennasse Nadelwälder sein können, die von tief stehender Sonne durchstrahlt werden. Und wie das alles riecht! Und nachdem ich an jenem Tag schon Übersechziger auf De Rosa, ein wunderschönes Roubaix sowie einen toreinfahrtgroßes Madone beäugt habe, fahren wir plötzlich mit Gerd. Er sitzt auf einem mittneunzigergelben Giant Stahlrahmen, Schraubkranzhinterrad, Siebenfach-Megarange-Kranz. Er tritt auch am Berg nur die drei kleinsten Ritzel, natürlich vom großen Blatt, seine Füße stecken in zusammengeschobenen Socken und Radsandalen. Unter seinem Trikot baumelt stetig sein Brustbeutel, fahrend simuliert der eine ordentliche Plauze. Das Sitzpolster der Radhose wiederum hängt irgendwo und ist von hinten nicht zu erkennen, dafür schlägt die rücklings angebrachte Gepäcktasche in jedem Schlagloch nahezu auf seinem Hinterreifen auf. Das ist dann der Punkt, an dem man tunlichst alle vermeintlichen Weisheiten vergessen sollte, all die Dinge die gehen und die eben nicht gehen. Denn Gerd lugt am nächsten Berg immer wieder grinsend zu uns rüber. Gerd zieht einen Gipfelsprint an. Gerd ist auf diesem Rad zum vierzehnten Mal dabei, nach Moskau ging es schon und bis nach Istanbul. Gerd ist so ein Friedensfahrt-Typ. Heute fahren wir aber nur bis Horni Bradlo, in den Wald und in ein ehemaliges Kinderferienheim mit Finnhütten, leerstehenden Pools und freundlichen Essensdamen. Im Wald ist es wunderbar friedlich.

Gezwungenermaßen sind wir Saboteure des montäglichen Kulturprogramms am Zielort Brno. Viel mehr müssen wir schon am Sonntag um 14 Uhr ankommen, um unser Gepäck in Empfang zu nehmen, die Räder in den wartenden LKW zu wuchten und daraufhin die Rückreise nach Leipzig anzutreten. 130 km sind es trotzdem und so brechen wir um kurz nach halb acht auf. Zu siebt diesmal mitsamt unserer Sportgruppe, in der sich merkbar fragende Nervosität ob unserer Leistungsfähigkeit und unseres Leistungswillens breit macht. Wir geben, was wir können, sind nach wenigen Kilometern warm, an den Steigungen teilt sich trotzdem der Zug. Als die abendlich in Keesis hinteren Schlauchreifen eingefüllte Dichtmilch ihren Dienst in der Glasscherbenwunde versagt, schickt der Zufall uns Helfer Frank samt Verpflegungsauto, in dem auch eine Standpumpe lagert. Es wird gemilcht, gepumpt und gegessen, die erste Pause haben wir jetzt schon durch und die Wasserscheide Elbe-Donau ebenso hinter uns gelassen. Folglich rollt es, zuweilen fliegt es, an einem Stausee erwartet uns rauher Asphalt und eine überwältigende Landschaft samt schön geschwungener Abfahrt hinter der Staumauer. Später bemerke ich in einer schnell gefahrenen Kurve das undefinierte Schwimmen meines Hinterbaus, mein Schlauch ist diesmal dran und so kommen Hans und ich doch noch zu unserem eingeforderten Kaffee. Die Uhr drückt ständig, wir liegen halbwegs im Plan, der Schnitt kostet Körner und als die Straße das Tal abermals verlässt, verlässt uns auch die Spritzigkeit. Doch Brno ist in Reichweite, einmal noch mit Kraft in eine Abfahrt stürzen, zielnah letzte Wellen wegdrücken, ich muss sogar ein Gel einzutschen, um mich an den Stadtrand zu retten. Zügig mit Tendenz zur Entkräftung fahren wir durch die überraschend weitläufigen Vororte der mährischen Stadt, die im Zentrum auch noch mit einem ordentlichen Anstieg aufwartet. Fünf vor zwei sind wir am Ziel und finden den LKW. Räder verpacken, Gruppenticket lösen. Wir sind durch und haben um die 510 km auf der Uhr. Gemächlicher als im letzten Jahr, aber auch mit weiterem Blick für Details, mit etwas mehr Genuß und vor allem: Ohne Schmerzen am Schluß. Hatte ich mir im letzten Jahr noch auf der letzten Etappe über den Spindlerpass mindestens ein Gelenk heißgedreht, sind diesmal die Beschwerden spätestens auf der dritten Etappe verschwunden. Kann man sich also doch halbwegs auf seinen Körper verlassen. Wie schön.

Während der über achtstündigen Zugfahrt nach Leipzig gehen mir einige Szenen nochmals durch den Kopf. Das Feld bestand zu einem guten Teil aus älteren Herrschaften, die wohl meist aus dem Osten des Landes kommen und in der Friedensfahrt eine Fortführung ihrer persönlichen Radsporttradition sehen. Man ist teilweise in Vereinen organisiert, bei einigen herrscht merklich Gruppendisziplin. Die Trillerpfeife wird auch schon mal gezogen und die Frage nach Lizenzen, die uns gestellt wurde, kommt sicher auch nicht von ungefähr. Unsere Raucherei wird natürlich mit Kommentaren bedacht; lustig auch die Vereinsmitglieder, die sich zum Durchzug einer wohlverdienten „Petra“ hinterm Busch verstecken und einen fast wie Eingeweihte angrinsen. Erst in diesem Jahr ist mir klar geworden, dass Peter und Christel Scheunemann diese Touren – 2011 geht es zum Beispiel noch von Leipzig nach Kiew! – seit über 25 Jahren organisieren. Dankesworte für die absolut umsorgende Organisation werden dabei fast floskelhaft entgegengenommen, sie scheinen gar nicht wirklich anzukommen. Warum die beiden und einige Freunde das immer wieder machen? Ich weiss es nicht genau. Mir ist jedenfalls wieder klar geworden, dass sich in vier Tage nicht viel mehr Konzentration auf’s Rad fahren hineinpacken lässt, dass einem Punkte wie Verpflegung, Routenführung und Unterkunft routiniert abgenommen werden und man dadurch – Vorsicht, Floskel! – den Alltag für diese Zeit wunderbar hinter sich lassen kann. Und es ist ganz bestimmt davon auszugehen, dass Critical Dirt 2011 ohne die letztjährige Friedensfahrt anders oder gar überhaupt nicht aussehen würde. Die Friedensfahrt ist ein tolles Ding und ich hoffe, dass sich auch in unserem Feld mindestens ein Eddy oder ein Gerd finden werden. Diese Begegnungen mit sympathischen Menschen, die manchmal ziemlich anders unterwegs sind als man selbst und mit denen man trotzdem Strecke und Eindrücke herzlich und unmittelbar teilen kann, runden die ganze Fahrt für mich ab. Und natürlich ist es eine Freude, solche Touren mit Freunden unternehmen zu können. Es war mir eine Ehre, mit Ihnen zu fliegen!